Zusammenfassung aus dem Buch von Helmut Thielicke: Das Schweigen Gottes
ISBN 3-7918-1921-6 Quell Verlag. Meine Gedanken habe ich darin eingearbeitet. Deshalb empfehle ich, das Buch selbst zu kaufen.

Durch Rolf Häberle

Themen: Sinn, Leid, Tod, Krankheit, Sinnlosigkeit

Warum?

Jesus ging vorüber und sah einen, der blind geboren war.
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: »Meister, wer
hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren
ist?« Jesus antwortete: »Es hat weder dieser gesündigt noch
seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden
an ihm. « Johannes 9,1-3

Im Grunde besteht das, was uns am meisten quält, gar nicht in schwierigen Lebenslagen, in körperlichen Schmerzen oder auch in großen Katastrophen, die über unser Leben hereinbrechen. Als unser Volk aus der Tiefe des zerstörerischen Krieges auftauchte, war die nationale Katastrophe vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war die Frage: Warum ist das viele Blut vergeblich geflossen? Warum mußte dies alles mit Deutschland geschehen? Viele wären vermutlich ruhiger geworden und hätten alles getragen, wenn jemand ihnen dieses Warum und den Sinn von alledem hätte erklären können. Ebenso sind die Menschen unseres Textes von Fragen gequält: Wie kommt es, daß gerade der Blindgeborene mit dem schauerlichen Schicksal ewiger Nacht geschlagen ist? Es ist die Frage des Leides in der Welt, und noch mehr wohl die Frage seiner merkwürdigen und undurchsichtigen Verteilung, die sie umtreibt.

Es ist zweifellos sehr verwunderlich, daß Jesus die Frage einfach ablehnt. Er hat sie auch in anderen Zusammenhängen abgelehnt, als zum Beispiel die Menschen ihn fragten, warum der umstürzende Turm von Siloah gerade diese und jene getroffen und unter seinen Trümmern begraben habe (Luk. 13, lff). Woran liegt es, daß Jesus auf diese Fragen nicht eingeht? Sollte er etwa nichts von dem wissen, was jeder von uns weiß oder doch dunkel ahnt? Sollte er nichts von dem Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe wissen? Unser tiefster menschlicher Instinkt zwingt uns doch, einfach bei allen Unglücksfällen und Katastrophen nach dem Schuldigen zu fragen. Wir fragen nach dem Schuldigen eines Krieges; eine so entsetzliche Katastrophe kann doch nicht von ungefähr über die Völker kommen; es kann doch nicht die spielerische Laune eines Schicksals sein, daß Millionen in den Tod getrieben und alte Kulturen ausradiert werden? Wir ahnen, daß dies alles Gerichte sind. Und wo ein Gericht verhängt wird, da geht es um Schuld. - In allen Religionen der Erde bringen die Priester Sühneopfer und macht das Volk Bußgänge, wenn Krieg und Schrecken, Erdbeben und Feuer hereingebrochen sind. So tief ahnt man hier untergründige Zusammenhänge. Und selbst wenn wir für irgendein großes oder kleines Mißgeschick einen Schuldigen einfach nicht finden können, dann erfinden wir jemanden. So tief ist in uns Menschen das Gefühl dafür ausgebildet, daß hinter Krankheit und Tod, hinter Bomben, Ruinenstädten und zerrissenen Familien eine Schuld stehen müßte. Wir können nicht anders, als angesichts aller Schrecken und Wehen der Geschichte und unseres Lebens die bohrende und verwundende Frage nach dem »Warum« zu stellen. Eine dunkle Witterung zwingt uns zu dieser Frage. Es ist die Witterung und die Ahnung dessen, daß es um Gericht und um Schuld geht.

Wir erleben hier wieder einen jener Augenblicke, wo wir uns den Menschen um Jesus aufs engste verwandt fühlen.

Ihre Fragen sind die unseren, ihre Herzensqual ist die unsere, wir stehen dicht hinter ihnen und fragen und sind ganz Ohr, als Jesus nun antwortet. Wir stehen mit unserer Warum-Frage nicht allein vor dem Herrn. Schon das zu wissen, tut gut und ist tröstlich.

Was antwortet Jesus auf die Frage nach der Schuld, auf die größte Warum-Frage unseres Lebens?

Zunächst ist das ganze Erdenleben Jesu eine Antwort:

Als Johannes aus dem Gefängnis die Botschaft schickt: »Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?«, schickte Jesus ihm die Gegenbotschaft: » Sagt dem Johannes, was ihr seht und hört: Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, und die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt. « Damit will Jesus doch sagen: Als Heiland lege ich meine mildernde und heilende Hand auf alle Wunden dieser Welt, auf die Wunden der Seelen und der Leiber. Die Wunde der Seele besteht in dem kranken Gewissen und in dem inneren Hader unseres Herzens, das mit Gott nicht in Ordnung ist und keinen Frieden hat. Zu dieser Wunde unseres innersten Menschen sagt er: »Dir sind deine Sünden vergeben! «

Die andere Wunde empfängt unser Leben durch Schicksal und Leid, durch Krankheit und Armut, durch Kriegsgeschrei, Gewalt und all das Elend dieser Welt, das uns immer so heimatlos macht in ihr. Zu diesem Jammer der gequälten Menschheit sagt er: »Stehe auf, nimm dein Bett und wandle! « Jesus weiß und sagt viel von dem schrecklichen Zusammenhang von Schuld und Leid. Er weiß und sagt, daß es zwei Seiten desselben Risses sind, den der Mensch mit seiner Lossage vom Vater verschuldet hat. Es ist die Welt, die sich aus den Vaterarmen gerissen hat, in der es kalt ist und in der man so furchtbar einsam sein kann; es ist die Welt, die sich aus den Vaterarmen gerissen hat, in der man zugrunde gehen kann, und kein Hahn kräht danach; es ist die Welt, die sich aus den Vaterarmen gerissen hat, in der es stumme Gräber und unheimliche Irrenanstalten gibt, in der Mißtrauen und Machtgier ihr Gorgonenhaupt erheben und der feuerrote Reiter des Krieges die Völker gegeneinander hetzt.

Es steht eine letzte und anklagende Schuld hinter allen Schrecknissen. Die ausweglose Verwirrung unter den Völkern und die Ruinenfelder stolzer Traditionen auf den Kontinenten sind ein aufgerichtetes Zeichen Gottes, wie weit das selbstzerstörerische Leid einer gottgelösten Welt schon gediehen ist, und vermitteln eine Ahnung davon, wie lawinenartig es noch weiter anschwellen könnte.

In einer erschütternden Schau sieht Paulus im achten Kapitel des Römerbriefes auch die stumme und bewußtlose Kreatur in ein großes Seufzen und Ängsten hineingezogen, weil auch sie in den Weltenbruch verstrickt ist, den die menschliche Lösung von Gott mit sich brachte. Und manchmal, wenn man einem Hund in die Augen sieht, meint man, das greifbar zu erkennen.

Ich glaube, wir verstehen heute alle mehr davon als früher; wir spüren es alle, wenn wir nicht ganz verblendet sind: daß in alledem nicht blinde Schicksale abrollen, sondern daß sich Gerichte vollziehen; daß die großen Heimsuchungen begonnen haben, die rufen: Tut Buße! Laßt euch versöhnen mit Gott. Noch sind die Arme des Vaters, denen ihr euch entrissen habt, nach euch aufgetan. Noch sind die Türen geöffnet und ist das Licht des Vaterhauses angezündet. Noch! Doch nun führt uns der Text noch an eine tiefere Frage heran. Die Leute, die jesus hier fragen: »Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?«, die Leute, die also durch die Blume fragen: »Warum ist dieser Mann blind? «, die wissen das alles, was ich soeben sagte. Sie leben alle in der biblischen Tradition und sind über den letzten Zusammenhang von Schuld und Leid im Bild. Aber nun wacht eine neue Frage für sie auf; und gerade weil sie an der lebendigen Begegnung mit einem kranken, gequälten Menschen entsteht, ist diese Frage auch selber quälender und aufwühlender als das allgemeine Schuld- und Leid-Problem. Ich meine die Frage: »Warum hat das Gericht denn gerade den getroffen? Warum muß ausgerechnet der durch so viel Leiden hindurch? Und warum fiel der Turm von Siloah gerade auf jene achtzehn, die unter ihm begraben wurden?«

Genauso freilich könnte man die Frage auch in der ersten Person stellen: »Warum muß gerade ich durch das Leiden hindurch und vor den Ruinen meiner Hoffnungen stehen? Warum gerade ich?« - »Warum hat dieses Unglück gerade meinen Sohn, meinen Bruder hinweggerafft? War sein Leben nicht voller Hoffnungen. Was hat er denn Böses getan? Wer hat hier gesündigt, er oder seine Eltern?« Wir können diese Frage nach dem Warum und nach der Schuld nicht lassen, und die großen Tragödien unseres Volkes - ich denke nur an das Nibelungenlied -wissen davon ebenfalls etwas zu singen und zu sagen.

Kennen wir nicht alle diesen peinigenden Frager in uns, der bald höhnisch und verzweifelt, bald in Schmerz, bald klagend immer nur fragt: Warum? Kein Wasserschwall von Reden, sondern nur ein Worttröpflein von fünf Buchstaben ist diese Frage: »Warum?« Diese Frage kann die tödliche Wunde unserer Seele werden.

Können wir uns jetzt die Mienen derer vorstellen, die Jesus fragen? Wahrhaftig, es ist nicht die interessierte Wißbegierde eines Zeitungsreporters, der mit gezücktem Bleistift einige Notizen darüber erbittet, wie Jesus über eine interessante Lebensfrage denkt, sondern die Männer stehen hier im Namen der ganzen Menschheit, im Namen von uns allen, mit brennenden Augen stehen sie vor Jesus und fragen: »Warum gerade ihn?« - »Warum gerade mich?«

Wir stellten schon die höchst merkwürdige Tatsache fest, daß Jesus keine Antwort darauf gibt. Weshalb nicht? fragen wir noch einmal. Ist auch seine Seele wund an dieser Frage? Verschlägt es ihm die Rede, weil plötzlich die Vision seines Kreuzes vor ihm auftaucht, an dem er selber fragen wird: Warum? Warum? - Warum hast du mich verlassen, Gott?

Nein, es verschlägt ihm nicht die Rede: Er sagt den Leuten: Eure Frage ist falsch gestellt. Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt. Vielmehr hat Gott noch etwas mit ihm vor. Er ist blind, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden können. Und dann heilt er ihn und ruft die Herrlichkeit Gottes für alle sichtbar in dieses arme und dunkle Leben herab.

Wir fragen nun ein Doppeltes: Weshalb lehnt Jesus die Frage nach dem Warum ab, und wie müssen wir also fragen, wenn die Warum-Frage schon falsch sein soll? Denn vom Fragen und Bohren kommen wir Menschen doch einfach nicht los. je dunkler es um uns wird und je tiefer die Abgründe sind, die wir durchschreiten müssen, um so weniger können wir darauf verzichten.

Zunächst der erste Gesichtspunkt: Warum lehnt Jesus die Frage nach dem Warum ab?

Solange ich frage: »Warum geschieht mir das?«, drehen sich meine Gedanken immer nur um mich selbst. Und wer feinere, vom Evangelium geschärfte Ohren hat, hört daraus eine Anklage: Ich habe es nicht verdient. Wir behaupten eben immer, es ganz genau zu wissen, wie Gott verfahren will. Oft müssen wir später - vielleicht nach einigen Jahren und Jahrzehnten - beschämt bekennen, wie töricht und hochfahrend wir waren, als wir Gott diesen Vorwurf machten. Wie oft hat sich herausgestellt, daß jene dunklen Stunden, derentwegen wir die Faust gegen den Himmel ballten, nur Stationen auf den weisheitsvollen Umwegen seiner Führung waren, die wir nicht in unserem Leben missen möchten. So hilft uns Jesus, wenn er uns die Frage nach dem Warum abgewöhnt, daß wir von der ewigen Anklage gegen Gott loskommen und uns nicht mehr an ihr wundzureiben brauchen.

Ist das alles, was Jesus zu diesem bedrängenden Problem zu sagen weiß? Oder lehrt er uns nun eine neue Art zu fragen? Er antwortet den Fragern in unserer Geschichte doch so: Der arme Mensch ist deshalb blind, »damit« die Werke Gottes an ihm offenbar würden. Er hat ihn also in die Nacht der Blindheit geführt, damit das Licht seiner rettenden Gnade und wunderbaren Führungen ihm um so strahlender aufgehen möchte. Und in der Tat: Vom Heilungswunder dieser Geschichte fällt ein heller Schein in alle Nacht des Leidens. Es ist ein Stück von der Lichtspur des Heilands, der durch die Erdennacht schreitet. - Damit ist die ungeheure Befreiung sichtbar gemacht, die Jesus der Not unserer Fragen und unserer hadernden Gedanken bringt. Er lehrt uns nämlich eine sinnvolle Wendung unseres Fragens. Er sagt uns, daß wir nicht fragen dürfen »warum?«, sondern »wozu?«. Mit dieser Wendung der Frage wird Jesus selbst unser Seelsorger. Wenn wir diese Wendung verstanden haben, dann löst sich unsere im Schreck zusammengeschnürte Kehle, dann bekommen wir wieder Luft, dann können wir wieder rufen und werden nicht müde, weil wir aus dem tiefen Frieden unseres Herzens leben können.

Wieso ist das eine ungeheure Befreiung? Indem Jesus uns fragen lehrt »wozu?«, lernen wir von uns selbst hinwegsehen auf Gott und seine Zukunftspläne mit unserem Leben. Wir verlernen, uns in unsere eigenen Gedanken zu verrennen, und erhalten eine ganz neue, positive und kreative Richtung unseres Denkens.

Wir können immer wieder folgendes bemerken: Alle Gemütskrankheiten und alle ausweglosen Traurigkeiten zeigen dieselben Erscheinungen, die der Arzt eine »egozentrische Struktur« nennt. Das soll heißen: Die Gedanken kreisen in den düstersten Stunden solcher Traurigkeit immer um mich selbst: Warum geschieht mir das, wie wird es mit mir weitergehen? Ich sehe keinen Ausweg mehr. Und je mehr ich mich an mich selbst verliere, um so unglücklicher werde ich. Dieses Unglück kann sich bis zu Krankheitsformen - etwa zu Neurosen - steigern. Daher sind auch alle egoistischen Menschen im Grunde unglücklich, einfach deshalb, weil sie selbst die Regenten ihres Lebens sein wollen, und weil darum mit tödlicher Sicherheit der Augenblick kommen muß, wo sie nicht mehr weiter wissen.

Und eben da kommt Jesus mit lindernder Hand, hebt unseren Kopf hoch und zeigt, welches Glück es ist, daß wir eben nicht die Regenten sind, sondern daß Gott im Regimente sitzt und alles wohl führt und daß er etwas mit uns vorhat. Dann sehen wir plötzlich von uns weg (allein das schon ist eine unendliche Wohltat, daß wir uns nicht selbst immer im Blick stehen und uns so entsetzlich wichtig nehmen); dann sehen wir plötzlich von uns weg und erkennen über uns Wolken, Luft und Winde und dürfen es wissen: Der diesen allen Wege, Lauf und Bahn gibt, der wird auch mich nicht vergessen und auch für mich ein Ziel meines Laufens und Wanderns im Auge haben. Das ist das Produktive dieser neuen

Art zu fragen. Wir lernen von uns selber wegsehen und auf die Ziele blicken, die Gott für unser Leben bereitet hat.

Die zweite Befreiung: Wir Menschen lassen uns immer wieder vom Augenblick beherrschen. Scheint die Sonne, sind wir »himmelhoch jauchzend«. Bricht ein Unglück herein, so scheint alles aus zu sein, und wir sehen durch die nächste Staubwolke nicht mehr hindurch. Unser Herz ist ein trotzig und verzagt und in beidem ein wankelmütig Ding.

Und nun befreit Jesus uns durch die neue Frage »Wozu schickt Gott uns das?« vom Augenblick. Er läßt uns in die Zukunft blicken. Gott hat etwas mit dir vor, und zwar nicht nur mit dir allein, sondern mit der ganzen Welt. Gott ist ein Gott der Ziele. Das Neue Testament lehrt uns deshalb auf Schritt und Tritt immer wieder, auf das Ende aller Dinge zu blicken, wo die verwirrenden Straßen unseres Lebens, an denen so viele Ruinen von Hoffnungen und Gräber unserer Liebsten und Nächsten sind, alle an ihr Ziel gekommen und die großen Friedensgedanken Gottes zu Ende gedacht sind. Die Offenbarung des Johannes zeigt uns, wie es an diesem letzten Ende aussieht. Da hallt der Himmel wider von den Lobgesängen derer, die überwunden haben. Sie haben alle im gleichen Jammer gesteckt wie wir, sie haben gelitten, sie haben im Elend gelegen, in dem man keinen Himmel und kein Vaterauge sah. Sie haben aus den Tiefen gerufen, ja, sie haben geschrien: Gott, wo bist du? Und in all dem haben sie nicht geahnt, daß dieser »Irr«-Weg durch Tränen und Jammertäler ein solches Ende finden mußte: daß sie Gott nur noch loben konnten. Auf dieses Lob am Ende läßt Jesus uns schauen und hören, wenn er uns die Frage lehrt: »Wozu?« Diese Frage gibt mir ganz einfach Ruhe, denn man kann in gefährlicher Lage nicht mehr nervös werden, wenn man weiß, es wird gut ausgehen; das alles läuft auf ein Ziel hinaus, das mir zugedacht ist und mir zum Besten dienen muß. Christen sind Menschen, die eine Zukunft haben, in die sie an einer unendlich sicheren Hand geleitet werden. Darum erheben sie ihre Häupter, weil sie um das Nahen dieses Zieles wissen, so merkwürdig auch der Weg ist, der dahin oder auch nicht dahin zu führen scheint.

Die dritte Befreiung, die Jesus uns durch diese Frage schenkt, ist vielleicht die größte. Denn Jesus stellt uns mit dieser Frage »Wozu schickt Gott das?« an die Arbeit und gibt uns eine produktive Aufgabe. Die beste Heilsalbe für alle Verzagtheit und Depression ist ja immer Arbeit und Aufgaben.

Es kostet einfach Arbeit und übung, es kostet sozusagen ein inneres Training, daß wir uns zu dieser Frage »Wozu?« durcharbeiten. Es macht Arbeit und Mühe, einmal von der immer nur negativen Warum-Frage abzusehen. Gott ist immer positiv; alles, was er tut, hat einen positiven und helfenden Sinn. Ich muß nur bereit sein, seinen Weg mitzugehen. Leute, die in ewiger Opposition leben, kommen nie dahinter, welche Absichten Gott mit ihnen verfolgt, und tragen obendrein dazu bei, sie zu durchkreuzen. Von dieser Opposition will der Herr uns befreien, wenn er uns die neue Art der Frage lehrt. Er stellt uns damit eine ganz klare Arbeitsaufgabe für unseren inneren Menschen. Er hat sie gleichsam selber leisten müssen und ist am Kreuz unser »Vorarbeiter« geworden. Oder meinen wir vielleicht, es sei keine Arbeit gewesen für ihn, sich von der Frage »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« durchzuarbeiten und durchzuringen bis zu jenem letzten Kreuzeswort-. »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist«, bis zu jenem letzten Einklang und Frieden mit dem, was Gottes Hände mit ihm vorhatten - -?

Es kostet Arbeit und eine heilige innere Disziplinierung, daß wir nicht zurückblicken auf das, was uns Gott genommen hat, sondern auf die Aufgaben, die Gott uns stellen will.

Ich denke an die von unbegreiflichem Unglück Betroffenen, an die Vereinsamten und Trauernden und sage es im Auftrag Jesu, ich sage es feierlich im Namen unseres Textes, daß ihnen mit all ihrem Schmerz eine Aufgabe gestellt ist.

Vielleicht ist mir die Aufgabe gestellt, nun ganz anders für andere Menschen dazusein als bisher, wo ich in meiner gesicherten Welt lebte und darin aufging. Könnte ich die Not anderer überhaupt verstehen, wenn ich nicht selbst in diese Abgründe gerissen wäre? »Wunden müssen Wunden heilen. « Die eigentlichen Helfer ihrer Menschenbrüder sind deshalb auch immer nur die großen Verwundeten gewesen, Leute also, die selbst unter den größten Schmerzen zu leiden hatten. Nur darum konnte Jesus der Seelsorger werden (oder der Hohepriester, wie ihn der Hebräerbrief nennt), weil er selber den Mächten der Schuld, des Leides und des Todes standhalten mußte und darum Mitleid haben konnte mit denen, die im Schatten dieser Mächte sitzen.

So frage ich im Namen unseres Textes: Bist du bereit, darauf einzugehen und den Menschen zu suchen, der dich nötig hat, und die Aufgabe zu finden, die Gott dir stellen will? Ich kann es nur in heiliger Monotonie wiederholen. Gott ist immer positiv, er hat sich etwas dabei gedacht, als er das tat, er hat es »zu« etwas getan. Spürst du den Pflug in deiner Hand, in dieser Hand, die plötzlich so leer geworden zu sein scheint? Siehst du den Acker vor dir liegen? Ein Acker ist es, und nicht die gähnende Leere einer ungewissen Zukunft, wie du in deinem trotzigen Verzagen wähnen möchtest. Nun pack den Pflug an und schaue nicht zurück!

Es ist sehr merkwürdig: Jesus hat ausgerechnet die Armen seliggepriesen, das heißt die, denen alles aus den Händen gesunken ist, die Einsamen, Hungernden und Dürstenden. Warum hat er das getan? Nur deshalb, weil er etwas vorhat mit allen diesen. Vielleicht muß uns allen einmal, wie jenen Armen, der Boden unter den Füßen wanken, damit wir fragen: Wo ist denn der wahre Grund, auf den ich mein Leben gründen kann? Gerade die Stunden, wo uns alle menschlichen Sicherheiten entsinken, wo wir arbeits- und berufslos auf der Straße liegen, wo die Menschen sich von uns zurückziehen, wo die Häuser in Trümmer sinken und es kalt um uns wird, weil die liebsten Freunde tot sind; gerade diese Stunden, in denen wir nicht mehr weiter wissen, können die gesegnetsten unseres Lebens sein, weil uns Gott dann einmal alles sein will: Vaterhaus und Freund, Mutterhand und Speise für den kommenden Tag, der Ort, wo wir unser Haupt hinlegen, und das Herz, in dem wir Ruhe finden können; wo wir wieder einmal ganz wie die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde sind, die sagen: Ich habe gar nichts, und jetzt muß deine Hand mir alles sein.

Die Väter unseres Glaubens haben fast alle durch dieses Sperrfeuer hindurchgemußt. Sie haben das Schicksal unseres Meisters an Verfolgungen und Nöten als ihr eigenes erlebt. Sie waren oft ärmer als die Füchse mit ihren Gruben und die Vögel unter dem Himmel mit ihren Nestern und manchmal auch hungriger als das ärmste Tier. Aber als ihnen dann Gott Gruben und Nester und Brot wiedergab, da haben sie dies alles als Verwandelte und anders genossen als früher. Sie haben die dunklen Stunden seliggepriesen, in denen der »kommende« Tag in schrecklicher Dunkelheit vor ihnen lag und sie noch nicht wußten, daß er nur eine ganz dünne Wand bildete, die sie von den größten Überraschungen Gottes schied, und ihnen statt des kommenden Tages mit seiner Angst die Ewigkeit geschenkt werden sollte.

Auf alle diese Wunder, die Gott für uns bereit hat, sollen wir blicken: auf die Überraschungen an der nächsten Wegstrecke, auf die Aufgaben, die er uns stellt, und auf die vielen Freundlichkeiten, die er am Wege auf uns warten läßt, vom Händedruck eines wildfremden Menschen bis zum Lächeln eines Kindes: auf alles das sollen wir blicken. Denn das hat Gott mit uns vor. Darum lehrt uns Jesus die Frage: »Wozu?« Gott ist ein Gott der Gaben und der Aufgaben.

Und so sehen wir am Schluß: Alles wird uns unter den Händen verwandelt, wenn wir an der Hand unseres Herrn auf die großen Ziele Gottes loszugehen bereit sind.

Da ist die Befleckung unseres Gewissens, da ist unsere Schuld. An der Hand Jesu dürfen wir auch da mit Furcht und Zittern fragen: »Wozu?« und dürfen uns von Paulus die Antwort geben lassen - Auf daß die Gnade um so mächtiger werde, daß das Kreuz uns um so größer und der Herr uns um so lieber werde.

So ist Jesus der Erlöser unserer Herzen und der Wandler aller Dinge. Er lehrt uns, auf die großen Ziele Gottes zu blikken, weil er selber an diesem Ziele steht. Er ist ja der, der wiederkommen wird, wenn es soweit ist. Auf diese Vollendung seines Werkes ist alles ausgerichtet: Die Tränensaat vieler Schreckensjahre, sie soll aufgehen in einem frommen und guten Herzen »als Saat, von Gott gesät, am Tage der Ernte zu reifen«. - Die ausweglose Verwirrung unter den Völkern und die Ruinenfelder stolzer Traditionen: Sie sind die schrecklichen Fanale des gottgelösten Menschen, der am Ende ist und der nun gefragt wird, ob er sich zu einem neuen Anfang rufen läßt. - Die Nöte deines und meines Lebens, sie sind der dünne Boden unter unseren Füßen, der wankt, weil Gott uns auffangen will.

Alles ist voller Ziele und Verheißungen. Die Luft ist erfÜllt von der Frage Gottes, ob wir bereit sind, auf ihn einzugehen und anzufangen mit dem, was er mit uns vorhat. Das meint Jesus, wenn er sagt, die Dunkelheit im armen Leben eines Blindgeborenen, die Dunkelheit in meinem und deinem Leben sei nur dazu da, daß die Herrlichkeit Gottes dadurch offenbar werden soll. Sie wird auf eine höchst überraschende Weise kommen und kundwerden. Sie wird so kommen und kundwerden, daß wir uns wundern müssen; denn Gott hat eine Zukunft für uns, und seine letzten Trümpfe sind noch gar nicht ausgespielt.

Darum also: »Erhebet eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht! «